Industrielle Energiewende: Im Gespräch mit Dr. Marius Neuwirth
Die Transformation zur klimaneutralen Industrie stellt Unternehmen vor technologische, wirtschaftliche und infrastrukturelle Herausforderungen. Im Interview erläutert Marius Neuwirth vom Fraunhofer CINES, wie die Energiesystemanalyse mit einem Bottom-up-Ansatz dazu beiträgt, industrielle Standorte präzise zu bewerten, Investitionsentscheidungen zu unterstützen und die Umsetzung der Energiewende in der Industrie gezielt voranzubringen.
Herr Neuwirth, Energiesystemanalyse klingt zunächst nach deutschlandweiten Szenarien. Was bedeutet das konkret für Industrieunternehmen? Wo liegen die Berührungspunkte?
Dr. Marius Neuwirth: Die Energiesystemanalyse beschäftigt sich mit dem gesamten Energiesystem, einschließlich Energieangebot, Infrastrukturen, und Energienachfrage in Industrie, Gebäuden und Verkehr. Traditionell erfolgt die Betrachtung häufig auf nationaler Ebene, beispielsweise für Deutschland oder sogar aggregiert für Europa. Grundsätzlich geht der Trend in der Energiesystemanalyse mittlerweile zu höherer Auflösung und mehr Detail. In unserer Arbeit im Geschäftsfeld Klimaneutrale Industrie verknüpfen wir diese übergeordneten Analysen mit sehr detaillierten Modellen für die Industrie. Dafür haben wir ein neues Modell entwickelt, das Transformationspfade auf Standortebene abbildet. Die Schnittstelle zwischen der Systemanalyse und den konkreten Anlagen der Industrie wird dadurch deutlich präziser, sodass sich die industrielle Transformation realitätsnäher analysieren lässt.
Viele Industrieunternehmen stehen vor massiven Unsicherheiten, etwa beim Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft oder bei der Umstellung auf klimaneutrale Prozesse. Wo liegen aus Ihrer Sicht die größten Herausforderungen?
Industrielle Produktionsanlagen sind sehr kapitalintensiv und haben lange Lebensdauern. Wenn Unternehmen in den kommenden Jahren erneut in fossile Technologien investieren, drohen Lock-ins bis weit in die 2040er-Jahre. Gleichzeitig bestehen Unsicherheiten hinsichtlich des Wasserstoffkernnetzes, dessen Anschlussfristen sowie Preis- und Verfügbarkeitsentwicklungen. Investitionen müssen jedoch bereits heute entschieden werden.
Hybride Technologien können Übergangslösungen bieten, etwa Direktreduktion in der Stahlindustrie oder flexible Prozesswärmeerzeugung, die zunächst mit Erdgas und später mit Wasserstoff oder Strom betrieben wird. Die größte Herausforderung bleibt dennoch die Kombination aus Planungsunsicherheit, Energiepreisrisiken und unklarer Infrastrukturentwicklung.
In Ihrer Forschung setzen Sie auf den sogenannten Bottom-Up-Ansatz in der Energiesystemanalyse. Was verbirgt sich hinter diesem Ansatz, und worin unterscheidet er sich von den klassischen Top-Down-Methoden? Welche neuen Erkenntnisse ermöglicht er?
Top-Down-Modelle nutzen nationale Statistiken, die nachträglich auf Regionen oder Branchen verteilt werden. Dadurch entstehen strukturelle Ungenauigkeiten. Unser Bottom-Up-Modell geht den umgekehrten Weg: Wir erfassen die Standorte der Industrie mit ihren Anlagen, Kapazitäten und Lebenszyklen und aggregieren daraus die nationale Perspektive.
Der Vorteil liegt in der deutlich höheren regionalen Auflösung. Transformationstreiber, Infrastrukturbedarfe oder zeitlich kritische Investitionspunkte werden sichtbar. Dies erleichtert insbesondere die Planung von Energie- und CO₂-Netzen und macht theoretische Szenarien für die Praxis anschlussfähiger.
Welchen konkreten Nutzen hat der Bottom-Up-Ansatz für Industrieunternehmen? Gibt es aktuelle Projekte oder Best-Practice-Beispiele, die zeigen, wie der Ansatz in der Praxis funktioniert?
Unternehmen profitieren davon, dass ihre tatsächlichen Rahmenbedingungen im Energiesystem in solchen Analysen besser berücksichtigt werden. Energieregionale Besonderheiten wie erneuerbare Potenziale oder Infrastrukturzugänge können so viel genauer bewertet werden.
Aktuell arbeiten wir an Fallstudien für einige Regionen mit hoher Industriedichte. Die Projekte unterstützen sowohl Unternehmen als auch Landesregierungen dabei, die industrielle Struktur besser zu verstehen. Gleichzeitig fließt das Feedback der Stakeholder aus diesen Projekten direkt in die Weiterentwicklung des Modells ein und verbessert die Datengenauigkeit.
Welche Entwicklungen sehen Sie in den nächsten fünf bis zehn Jahren für die industrielle Energiewende? Welche Rolle kann die Forschung – insbesondere Fraunhofer CINES – dabei spielen?
Die nächsten Jahre entscheiden maßgeblich über die künftige Ausrichtung des industriellen Energiesystems. Entscheidend wird sein, welche Rolle Wasserstoff einnimmt und wie sich Preise und Verfügbarkeit entwickeln. Elektrifizierung zeigt sich bereits heute als robuster und wirtschaftlich attraktiver Transformationspfad, insbesondere bei Prozesswärme. Hybride Systeme bieten hierbei Flexibilität.
Darüber hinaus wird Carbon Capture, also CCS und CCU, für Branchen mit prozessbedingten Emissionen wie Zement und Kalk zur zentralen Option. Der Aufbau von CO₂-Transport- und Speicherinfrastrukturen steht dabei im Fokus.
Fraunhofer CINES erforscht diese Entwicklungen intensiv und unterstützt Politik wie Industrie mit fundierten Analysen zu robusten Transformationspfaden, etwa in der CO₂-Infrastrukturplanung oder bei der Bewertung von Energiepreisszenarien. Die Forschung leistet damit einen entscheidenden Beitrag für eine planbare industrielle Energiewende.
Dieses Interview erschien im Rahmen des Fraunhofer Energy & Climate Newsletters.
Dr. Marius Neuwirth ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI in Karlsruhe in der Abteilung Energietechnologien und Energiesysteme mit Fokus auf regional hochaufgelöster industrieller Energienachfrage und Modellierung der Marktdiffusion innovativer Technologien der Industrieproduktion.